Jenny


Bei einer kurzen Rundschau im Internetportal fällt erfahrungsgemäß der Blick fast immer auf die neuen Gesichter; diese werden anfangs schon der Neugier wegen mit viel Aufmerksamkeit bedacht. Wichtige Suchkriterien, wie beispielsweise die Entfernung des Wohnorts, werden bei diesem interessanten Klientel dann einfach ausgeblendet und der eigenen Fantasie völlig freier Lauf gelassen. Trotz meiner langen Zugehörigkeit und dem Wissen, dass es mit den „Neuen“ nicht anders läuft als mit den bekannten Gesichtern, verwirft man oft die gemachten Erfahrungen in der Hoffnung, dass es diesmal ja anders sein könnte. Gerade die Entfernung zu einem vermeintlich interessanten Partner ist ein sehr wichtiger Punkt, wie ich in meiner jüngsten Vergangenheit erst wieder leidvoll erfahren musste. Dennoch unterliegt man immer wieder dem Reiz, diese Hürde ignorieren zu können, wenn das Objekt der Begierde ansonsten über alle ersehnten Attribute verfügt – doch oft trügt der Schein. „Lonely Jenny“ war solch eine Neueinsteigerin, eine gut aussehende 42 jährige Frau mit langen blonden Haaren, beheimatet in Bremen, also für mich am anderen Ende der Republik. Mir war nach Unterhaltung und so entschloss ich mich erstmals, wieder den sonst von mir gemiedenen Chatroom zu bemühen. Dazu signalisiert man dem gewünschten Gesprächspartner mit einem Signal auf seinem Profil, dass man Lust auf eine Unterhaltung hätte und überlässt es dann diesem, ob er die Einladung zum Gespräch auch annimmt..

<Michael> Hallo Jenny, hast du Lust, ein bisschen zu plaudern?
<Jenny> Hi Michael, bin nicht sicher ob das gut klappt mit mir, war noch nie in einem Chat.
<Michael> Das ist wie beim Telefonieren, einfach darauf losquatschen.
<Jenny>
Wirklich? Und Du armer Kerl willst dir das dann anhören?
<Michael> Bin doch neugierig zu erfahren, wie man als hübsche Frau hier landet und nicht bereits von allein stehenden Männern in der Umgebung entdeckt wurde.
<Jenny> Es gibt nichts zu entdecken und – hübsch bin ich auch nicht – nicht mehr jedenfalls.
<Michael> Auf den Bildern bist du sehr attraktiv, da gibt es sehr wohl etwas zu entdecken.
<Jenny> Ja die Bilder – das war vor drei Jahren, da sah ich noch etwas anders aus, hoffe du bist nicht böse auf mich.
<Michael> Du bist in guter Gesellschaft, ja die liebe Eitelkeit, denke jedes zweite Bild ist hier nicht ganz ehrlich. Warum gefällst du dir jetzt nicht mehr?
<Jenny> Ich möchte das nicht sehr gerne erzählen.
<Michael> Das ist schon o. k., nur bei einem Date ist so etwas immer unangenehm. Hattest du schon ein Date mit jemandem von hier?
<Jenny> Nein, werde auch keines haben – bin doch verheiratet.
<Michael> Wie bitte? Was würde dein Mann wohl sagen, wenn er von deinen Aktivitäten hier erfährt, oder willst du ihn verlassen?
<Jenny> Mein Mann weiß davon, eigentlich ist der Vorschlag, hierher zu kommen, sogar von ihm.
<Michael> Er will, dass du hier mit Männern Kontakt hast, ist das dein Ernst?
<Jenny> Es geht nicht speziell um Männer, sondern mehr um den Kontakt als solches.
<Michael>  Du verstehst, dass ich etwas verwirrt bin? Wo ist dein Mann, wenn du hier am Kontakten bist – ist er auch online mit anderen?
<Jenny> Nein, es ist alles ein bisschen anders, er ist bei seiner Freundin.
<Michael> Was für eine Art Ehe habt ihr beiden eigentlich – hast du auch einen Freund?
<Jenny> Nein, habe ich nicht, es geht nur um Sex – er liebt sie nicht.
<Michael> Nur um Sex – und das stört dich nicht?
<Jenny> Doch schon, aber ich kann ihn verstehen, du musst wissen, dass wir keinen Sex miteinander haben können.
<Michael> Seid ihr miteinander verwandt? Entschuldige, ein anderer Grund fällt mir dazu nicht ein.
<Jenny> Es gäbe noch mehrere, meiner ist, dass ich an Unterleibskrebs leide und momentan eine „Chemo“ mache – die Bilder, du verstehst?
<Michael> Mein Gott, verzeih mir meine dummen Fragen, an so etwas habe ich überhaupt nicht gedacht – und du beantwortest meinen Mist auch noch so geduldig.
<Jenny> Wollte das eigentlich nicht erzählen, sondern mich mit ein paar netten Gesprächen ablenken, bis mein Mann wieder nach Hause kommt. Er meinte, ich sollte hier ein bisschen flirten, aber eigentlich habe ich gar keine Lust dazu.
<Michael> Verzeih mir bitte Jenny – aber dein Mann ist ein wirkliches Schwein!
<Jenny> Nein, das ist er nicht, habe ihm nie erzählt, dass ich darunter derart leide, kann doch von ihm nicht verlangen, dass er ganz auf Sex verzichtet.
<Michael> Du nimmst ihn auch noch in Schutz, ich weiß nicht was ich sagen soll. Doch – er ist ein Schwein. Wie kann jemand so gefühllos sein, auch nur anzunehmen, dass so etwas dem Partner nichts ausmacht. Zudem wenn …
<Jenny>  … zudem wenn was? Ich liege doch noch nicht im Sterben – ich komm schon klar damit.
<Michael> Ich will dir wirklich nicht zu nahe treten – aber es ist so verletzend und rücksichtslos. Und du … lässt dich auch noch überreden, hierher zu kommen, damit er sich besser fühlt, da du ja beim Flirten Unterhaltung hast, während er ein bisschen Sex macht – ich bin so wütend!
<Jenny> Ich will nicht mehr darüber sprechen, es war ein Fehler, dir davon zu erzählen.
<Michael> War es nicht. Ich will doch nur, dass du es nicht einfach hinnimmst zu deinem Leid auch noch seine Demütigung zu ertragen, sag es ihm, dass er damit aufhören soll!
<Michael> … Jenny … bist du noch da? Jenny?



Der Teilnehmer hat den Chatroom eben verlassen


Diese Unterhaltung war mit Abstand das Traurigste, was mir in dieser Umgebung jemals widerfahren ist und hat mich Tage danach noch aufgewühlt und beschäftigt. Meine mehrmaligen Kontaktversuche mit ihr sind allesamt gescheitert, ich fürchte, dass meine emotionalen Äußerungen keine Hilfe darstellten, sondern eher sehr bedrückend auf sie gewirkt haben. Leider reagiert man als ungeschulter Außenstehender auf solche Tragödien mit emotionaler Ohnmacht, in der man die ohnehin schon angeschlagene Psyche einer solchen Person mit ungeschickten Äußerungen noch weiter unter Druck setzt. Sorry, Jenny.