Hera

Da ich seit Lilly keine Gesprächspartnerin mehr hatte, die auch wissen hätte können, dass Dürrenmatt kein Ausdruck von Erschöpfung, sondern Verfasser zahlreicher Romane und Theaterstücke ist, wollte  ich Ausschau nach kurzweiliger verbaler Unterhaltung halten. Ich stöberte wahllos in den Profilen der Damen nach Anzeichen von gesteigertem Leseinteresse oder besonderer Betonung kultureller Vorlieben. Nicht dass ich, ganz Mann, die einfachen Vorzüge mancher Damen nicht auch geschätzt hätte, sondern jetzt wollte ich einfach ein bisschen Konversation als Heilmaßnahme gegen meinen Katzenjammer. Ich musste nicht lange suchen, als mir das  Profil von „HERA“  ins Auge stach, in dem sie im Stile der alten Dichter ihre Person darstellte. Hera gab als Beruf Sexualtherapeutin an und dass sie 5 Kinder hätte, Hobbys Literatur und Kammermusik, Sport mitnichten und fügte die Aussage an, sich hier in dieser Umgebung völlig fehl am Platze zu fühlen – willkommen in meiner Welt. Sogleich machte ich mich ans Werk, meiner auserwählten „Therapeutin“ eine Mail zu schreiben, da sie gerade online war und mir der Sinn nach sofortiger Ablenkung  stand. Da ihr Profiltext wirklich sehr exaltiert war, musste ich diesem Umstand Rechnung tragen und meine Mail dementsprechend verfassen.   

                       Betreff:  Blindheit

                       Liebe Hera,

es ist so erfrischend, hier auch Menschen anzutreffen, die sich nicht nur über ein Bild darstellen, sondern mit Charme, Witz und Verstand. Deine Präsenz ist spürbar und Deine Sprache lässt manches erahnen. Ich wünschte, mehr Leute deines Schlages hier anzutreffen. Ich denke, dass Deine Nächsten mit Blindheit geschlagen sind, ansonsten würdest Du nicht in solch einer Umgebung verweilen.

Liebe Grüße

Michael

Nach 20 Minuten

Betreff: AW Blindheit 

Guten Abend, unbekannter Michael,

männliche Engel trugen mich einst auf ihren Schwingen durch den Kosmos, und deshalb mein Motto. Nur, dass es abgesehen von der himmlischen Art Dich zu präsentieren kaum zu glauben wäre, dass ich hier jemals einem Engel begegnen könnte, der Spezies XY noch dazu, bliebe es offen zu lassen, inwieweit Deine Selbsteinschätzung – bis auf die humoresk formulierten Antworten in Deinem Profil, die ich sehr ansprechend finde, auch nur annähernd jener eines Engels gleichen möge? Aber reizvoll der Gedanke, und nein, von Blinden war ich selten umgeben, nur meine Art zu kommunizieren beliebt nicht immer jenen an der Oberfläche herumdümpelnden Genossen Deiner Spezies.  Dein Wortwitz berührt mich, lässt Deine Herkunft vermuten und die Frage aufkeimen, weshalb ein Mann Deines Kalibers hier auf der Suche nach Unterhaltung stöbert.

Lichtvolle Grüße

Hera

Nach weiteren 20 Minuten                                                            

                       Betreff: Re AW Blindheit

Liebe Hera,

freue mich, das auch meine schlichten Ausführungen und mein oft sehr flacher Humor vor Deinen Augen Gnade finden. Wie schwer muss es für Dich sein, sich von vielen unverstanden zu fühlen, vorrangig bei all jenen, die nur Kurzweil hier suchen. Kann Dir nur den Rat geben, den Pessimismus hintanzustellen, um nicht den „Einen“ zu verpassen der „Dein Objekt der Begierde“ werden könnte – wäre schade um all die vertane Zeit. Bedenke, dass Glück nur eintritt, wenn die Türe geöffnet ist.

                      Liebe Grüße

                      Michael

Am nächsten Morgen

Betreff: AW Re AW Blindheit 

Guten Morgen, scharfsinniger Michael, 

ich scheine mich nicht deutlich genug deklariert zu haben, denn Pessimismus liegt am anderen Ufer, nur die zitierte Möglichkeit einem Mythos zu folgen, liegt genau dazwischen. Wer nun aber welchem Mythos anhaftend verweilt, bliebe dahingestellt … Unmögliches ist nur Unmögliches und ebenso möglich ist, dass diese Einstellung in meinem Leben nicht existiert, also ist demzufolge alles möglich. „Gedanken sind zollfrei“ – so Goethe, und recht hat er, sollte mehr danach gelebt werden, gäbe es weniger an Not, andererseits wäre mein Beruf nicht mehr gefragt, aber damit könnte ich auch ebenso glücklich leben, dann wäre das Ziel der Einheit erreicht, so man an eine solche im Sinne der Priore de Sion glauben mag.Um prinzipiell etwas aufzuklären: Menschen, selbst Männer, sind für mich keine Objekte, schon gar nicht der Begierde, sondern höchst adäquate Partner für das Erleben von Liebe in Worten des Kamasutra im Gleichklang mit der Kundalini. 

Erheiterte lichtvolle Grüße

Hera                                                                                                                                              

Diese geballte Ladung „HERA“ bestärkt mich schon nach relativ kurzer Zeit in meinem Vorhaben, künftig wieder in flacheren Gewässern zu schwimmen und notfalls auch ein bisschen Katzenjammer zu ertragen. Diese Mails waren nur zwei von vielen und es gelang mir trotz aller Anstrengung nicht, die Mauer der Worthülsen zu durchbrechen, um wirklich etwas Reales über Hera in Erfahrung zu bringen. Ich fürchte, sie wird mit dieser konsequenten Art der aussagelosen Kommunikation niemanden wirklich ansprechen und es bleibt zu hoffen, dass sie sich dessen auch gewahr wird.