Strategie

Mein damaliges Spiegelbild, so kurz nach meinem Unfall  war mir ständig präsent, passte aber so gar nicht zu den von mir auserkorenen äußerst hübschen Frauen. Es ging mir durch den Kopf, wie meine Bilder mit Gehhilfen und eingefallenen Wangen wohl aussähen im Kreise der Konkurrenz mit anderen stattlichen Kerlen. Kein Weg – diesen Kampf konnte ich nur verlieren. Nach Tagen ständiger Euphorie war der Zauber der neuen Zuversicht der Realität gewichen; bei der Durchsicht der Auswahl meiner eigenen Favoritinnen konnte ich auch kein mir adäquates Geschöpf finden – eine neue Strategie musste her. Mangels ausreichender Optik entschloss ich mich mit Vollvisier, sprich ohne Bild, nur ausgestattet mit Zuversicht und der Hoffnung, einen Zufalls-Treffer zu landen. Mir war sehr wohl bewusst, dass man ohne optische Präsenz kaum Beachtung findet – wer kauft schon gerne die Katze im Sack. Meine Taktik konnte nur sein, die Dame meines Herzens mit ausreichend Text zu beschäftigen, während die Zeit im Hintergrund mein Antlitz wieder hoffähig macht.

Meine ersten Versuche verliefen erwartet unerfreulich, Antworten von meinen Favoritinnen kamen überhaupt nicht, auch meine zweite Wahl zeigte kein Interesse, lediglich eine Dame, deren eigenes Bild durch Unschärfe viel Spielraum für Fantasie ließ, antwortete mit der Frage, warum ich denn kein Bild hätte. Meine ganze Hoffnung auf das Funktionieren meines Planes ruhte in dem Umstand begründet, dass ich bei Frauen gefühlsbetontere Antennen vermutet hatte als bei Männern, so dass mein beigelegter Text, den ich für sehr unaufdringlich und einfühlsam erachtete, Interesse hervorrufen würde. Stattdessen blättert scheinbar das „Weibsvolk“ ähnlich uns Kerlen lieber in ellenlangen Karteien, um hübsche Gesichter und stramme Hintern zu finden. Zumindest lag diese Vermutung wegen der fast nicht vorhandenen Resonanz nahe – meine  Illusionen wurden mir gründlich genommen.

Immerhin konnte ich mit der „unscharfen“ Dame, nachdem ich versprochen hatte, die Bilder nachzureichen, einige Mails austauschen. Dort erfuhr ich dann unter anderem, dass sie momentan ein bisschen Ärger mit ihrem Gewicht hätte und deshalb lieber ein Bild eingestellt hatte, das vor 10 Jahren aufgenommen worden war, welches aber eigentlich ihrer wahren Person viel mehr entspräche. Solche Aussagen lassen Schlimmes befürchten. Der Gedanke, es meiner „unscharfen“ Briefpartnerin gleichzutun, kam mir in den Sinn, wurde aber bei der geistigen Fortführung, die in einem persönlichen Date endete, schnell wieder verworfen. Meine eitle Gesinnung hätte so eine Demaskierung nicht ohne seelischen Schaden überwunden. Der Misserfolg machte die Notwendigkeit eines erneuten Wechsels in meiner Vorgehensweise deutlich, um wenigstens den zweiten Anlauf erfreulicher zu gestalten. 

Ich entschloss mich, neues Bildmaterial  herzustellen, das mit meinem lädiertem Äußeren etwas gnädiger umging als das Vorhandene, und zudem im Text kurz auf temporäre körperliche Befindlichkeiten hinzuweisen.  Die Kunst, geeignete aktuelle Bilder herzustellen, aus denen mein Elend nicht sofort offensichtlich wurde, bestand darin, mich für Bruchteile von Sekunden aufzuplustern, gestützt von einem festen Untergrund und einer bewusst zu weit gewählten Kleidung, unter der ich meine fehlende Körperspannung verbergen konnte. Die so entstandenen Bilder dokumentierten ihre Aktualität durch das rechts unten eingeblendete Datum. So müsste es jetzt eigentlich klappen …

Mein Beutenetz war mit den Bildern und dem neuen Text jetzt engmaschiger geworden, bei einem eventuellen schnellen Erfolg würde mein geplantes Spiel auf Zeit noch notwendiger als vorher. Mit einem so  komfortabel ausgerüsteten neuen Profil ging ich in die zweite Runde und versandte erneut meine Duftmarke an die Frauen, die ich dringend von ihrem „Alleinsein“ befreien wollte. Die Resonanz  auf meine illustrierte Selbstdarstellung war erneut sehr mäßig und führte mir vor Augen, dass meine Bilder wohl doch nicht ganz die gewünschte Vitalität  ausstrahlten, um die Damenwelt in Verzückung zu setzen.